Fluchtgeschichte

:: Die Geschichte unserer Flucht::

von Gerda Jagusch

 Flintbek, 26. Februar 1996

Tante Gerda

Tante Gerda

     Anfangen möchte ich meine Geschichte
mit dem schönen Nehrungslied:

Gott schuf ein schmales Stückchen Land,
wohl zwischen Haff und See,
armselig ist`s und unbekannt
trägt wenig Korn und Klee.
Der Sturmwind ist dort auch zuhaus
und schafft den Fischern Not.
Trotz Wind und Wetter geht`s hinaus,
das ist ein hartes Brot.
Und ist das Land auch noch so arm,
trägt wenig Korn noch Klee.
Wir sind ihm treu in Freud und Harm
wir zwischen Haff und See.

.

Geboren wurde ich am 12. Mai 1926 in Narmeln auf der frischen Nehrung. Wir waren zehn Geschwister – ich war die älteste. Auf der Nehrung waren einige Dörfer, fast alles Fischer. Kahlberg – heute Krynica Morska- und Neukrug – heute Piaski. In unserem Dorf Narmeln standen 56 Häuser, alle am frischen Haff, eins neben dem anderen.
Die Mitte der Nehrung war mit Kiefern bepflanzt, um den schmalen Streifen zu befestigen. Durch den Wald ging es dann etwa 2 km zur Ostsee. Geschäfte waren wenige im Dorf.
Es gab einen Bäcker, einen Gastwirt und die Eltern meines Vaters hatten ein Kolonialwarengeschäft. Dort konnte man von Petroleum bis Mehl über Süßigkeiten alles kaufen. Die Eltern meiner Mutter hatten einen kleinen Stubenladen mit Fischereibedarf: Netze, Angelhaken, Garn, auch Gummistiefel und Ölzeug. Denn unsere Hauptnahrung waren die Fische. Jeder im Dorf hatte ein Schwein. Wir mit unserer großen Familie hatten zwei Schweine. Ein Schwein wurde zu meiner Mutters Geburtstag am 22. November geschlachtet und das Andere zu meines Opas Geburtstag am 26. Februar.

Jeder in unserem Dorf hatte auch eine Kuh. Wust, Blutwurst, Leberwurst und Mettwurst haben wir selber gemacht, Schinken und Speck geräuchert, aber vieles wurde auch eingepökelt. Am Abend des Schlachttages gab es immer Blutflinsen. Unser Vater hat nur nebenbei gefischt , denn er fuhr die Fähre von der Nehrung nach Pillau. Es war ein Pendelbetrieb wie in Kiel-Holtenau. Unser Haus stand an einem kleinen Berg etwa fünf bis sechs Meter hoch. Eines Tages fing mein Vater an, am Berg zu graben. Er wollte einen Bunker bauen. Alle haben ihn ausgelacht und meinten: „Hierhin kommt doch kein Feind und schon gar keine Bombe!“ Aber er machte immer weiter. Er hat die Hohlräume der geschichteten Baumstämme mit Beton ausgegossen und die Wände hochgezogen. Dann hat er eine etwa 1 m hohe Decke geschüttet. Danach hat er die Betten eingebaut – 3 x 2 Betten übereinander. So konnten wir zu zweit, sogar noch einer am Fußende, schlafen. Denn wir waren ja mit den Großeltern (Oma und Opa Drude) 14 Personen.

Viele Männer aus unserem Dorf wurden jetzt eingezogen. Unser Papa auch, aber er konnte mit ein paar anderen im Ort bleiben. Wachtürme waren dort gebaut und sie mußten abwechselnd Wache halten, um Verdächtiges zu melden. 1945 war ein strenger Winter. Das frische Haff war zugefroren. Anfang Januar kamen dann die ersten Trecks mit Flüchtlingen übers Eis. Viele kehrten bei uns ein. Wir haben sie dann mit heißem Tee oder Muckefuck versorgt. Überall auf dem Fußboden lagen sie dann, um eine Nacht bei uns zu schlafen. Dann ging es wieder weiter. Sie ließen in der Zeit ihre Wagen auf dem Eis stehen, wo auch geplündert wurde.

Einmal spät abends kam ein Ehepaar mit einem kleinen Kind mit hohem Fieber zu uns. Der Opa war unterwegs gestorben. Den wollten sie am nächsten Morgen vom Wagen holen, um ihn zu beerdigen. Sie hatten ihn in einen Sack gesteckt. Als sie dorthin kamen, war ihr Wagen geplündert und auch der Opa war weg. Sicher dachten die Diebe, daß dort Fleisch, vielleicht sogar ein Schwein drin war. Das alles ging wochenlang. In Pillau war ein Gefangenenlager mit Russen. Die wurden von unseren Soldaten mit Peitschen und Stöcken übers Eis getrieben. Und wenn sie umfielen, gab`s ein paar Hiebe. Wenn sie dann nicht mehr weiter konnten, blieben sie liegen und sind erfroren. Nun sollten auch wir flüchten. Wir sollten am nächsten Morgen zur Ostsee gehen, um mit der „Wilhelm Gustloff“ rauszufahren. Dann kam die Nachricht, daß das Schiff voll belegt war und bei uns nicht halten würde. Das war unsere Rettung.

Ein paar Tage später – ein schöner sonniger Tag – gingen wir mit ein paar Jugendlichen zur Ostsee. Da sahen wir etwas liegen, von dem wir dachten, es sei eine Puppe. Es war ein kleines Kind. Weitere Tote lagen am Strand und in der Ostsee trieben auch viele Leichen. Der Wind stand so, daß einige bei uns angeschwemmt wurden. Dann erst erfuhren wir vom Untergang der „Wilhelm Gustloff“. Eines Tages hatten wir Wäsche draußen hängen, als es plötzlich einen lauten Knall gab. Die Wäsche war zum Teil zerfetzt. Da hörten wir schon durch den Volksempfänger, daß der Russe auf der anderen Seite des Haffes sei und mit der Ari auf unser Dorf schießt. Seit der Zeit gingen wir nun in den Bunker und schliefen auch dort. Vier Nachbarn kamen auch noch in den Bunker. Dadurch wurde ihnen das Leben gerettet, denn Tiefflieger hatten in der Nacht Bomben geworfen und ihr Haus neben uns getroffen. Eine Bombe fiel auf unseren Bunker. Wir Kinder fingen an zu schreien, denn der ganze Bunker fing an zu zittern. Langsam wurden auch die Lebensmittel immer knapper. Brot gab es nur noch einmal in der Woche. Kartoffeln hatten wir eingekellert und auch ein paar Steckrüben. Fleisch und Fisch war eingepökelt. Auch meine Großeltern bekamen nichts mehr in ihren Laden, denn alles mußte vom Festland geholt werden, aber da war schon der Russe. Wenn unser Vater vom Dienst kam, brachte er manchmal Krähen mit, die er geschossen hatte. Ich als Älteste, damals 18 Jahre alt, mußte sie rupfen. Fertig gemacht hat sie unser Papa. Sie haben wunderbar geschmeckt.

Anfang April 1945 fing es an zu tauen. Das Eis wurde immer dünner, aber der Flüchtlingsstrom riß nicht ab. Alle wollten noch in den Westen. Doch eines Tages brach das Eis auseinander. Die Pferdefuhrwerke wurden mit den Menschen in die Tiefe gerissen. Viele wollten noch zu Fuß das Ufer erreichen, aber es gab keine Rettung mehr. Wir hörten ihre Hilfeschreie, helfen konnten wir jedoch nicht. Soldaten kamen jetzt mit Flößen übers Haff. Die Front kam immer näher. An allen Seiten war der Russe. Uns blieb nur noch die Ostsee als Fluchtweg. Eines Tages kam der Befehl, das Dorf zu räumen. Viele Häuser waren schon kaputtgeschossen, aber unser Haus stand noch. Da hieß es, die jüngeren Leute sollten zu Fuß nach Pillau gehen und die älteren und Kinder kommen mit Lastwagen des Militärs nach. Schnell hatten wir noch Sachen in unserem Holzstall vergraben, da viele der Flüchtlinge das zurückließen, was sie nicht mehr tragen konnten. Schöne Handarbeiten, Wäsche und auch ein paar Gläser mit Zahngold. Wir selber gruben noch Pökelfisch und -fleisch ein und eine sehr schöne Uhr, das Gehäuse war ganz aus Bernstein. Die hatte unser Vater einmal als ersten Preis bei einer Segelregatta gewonnen. Alles wurde in dem Glauben vergraben, daß wir bald zurückkämen.
Am 11. April gingen wir mit sechs Mädchen aus unserem Dorf nach Pillau. Wir warteten dort eine Woche, aber niemand kam nach. Um etwas zu Essen zu bekommen, mußten wir etwa zehn Minuten zur nächsten Gulaschkanone gehen. Alles nur unter Angst. Wir bekamen eine halbe Dose Steckrüben. Uns hatte sich ein kleiner Junge in Pillau angeschlossen, der auf der Flucht von Königsberg seine Mutter durch Bomben verloren hatte. Er besaß eine Ziehharmonika.

Es war der 18. April und die Sonne schien herrlich warm. Wir saßen draußen und hörten im Hintergrund das Schießen der Front. Der kleine Junge spielte Heimatlieder auf seiner Ziehharmonika. Plötzlich gab es einen lauten Knall. Es waren Tiefflieger, die wir durch die Musik nicht rechtzeitig hören konnten. Der Junge wurde ein paar Meter durch die Luft geschleudert. Seine Lunge hing hinten aus seinem Rücken wie ein Ballon. Nun wollten wir so schnell wie möglich weg. Am Abend sollten wir am Hafen sein, um mit der „Preußen“ hinauszufahren. Wir kamen wieder nicht mit, da das Schiff ebenfalls belegt war. Das war unsere zweite Rettung. Am nächsten Tag erzählten uns die Soldaten, daß die „Preußen“ auf eine Miene gelaufen sei.. Spät Abends am 19. April bekamen wir den Befehl, am Hafen zu sein. Jetzt hatten wir Glück. Es kam ein kleines Eisenboot der Schichau-Werft aus Königsberg. Etwa dreißig Menschen fanden Platz darauf. Das Boot war unten mit Stroh ausgelegt. Trotzdem war alles feucht und kalt. Am 20. April sollten wir auf der Insel Hela sein. Wir hatten Angst vor diesem Tag und dachten, es würde wohl die Welt untergehen, denn Adolf Hitler hatte Geburtstag. Irrtum! Es war der ruhigste Tag auf der ganzen Flucht. Einen Tag lang waren wir auf der Insel Hela, dann wurden wir nach Saßnitz gebracht. Von Saßnitz nach Stralsund, von Stralsund nach Rostock, von Rostock mit der „Deutschland“ nach Dänemark. Für die „Deutschland“ war auch das die letzte Fahrt. Auf ihrer nächsten Fahrt mit Flüchtlingen ist auch sie auf eine Miene gelaufen. Das war unsere dritte Rettung.

Auf irgendwelchen Umwegen sind wir in Odensee / Dänemark gelandet. Von dort mit dem Zug nach Arslev. Wir waren 54 Flüchtlinge. ein paar Jugendliche, Kinder und alte Leute. In einem Missionshaus wurden wir untergebracht. Es war ein großer mit Stroh ausgelegter Raum. Wir sechs Mädchen waren immer noch zusammengeblieben. Wir suchten uns eine Ecke zum Schlafen. Als Decken dienten uns unsere Mäntel, als Kissen ein kleiner Rucksack. Es war der 04. Mai 1945. Nach ein paar Stunden Schlaf gingen wir hinaus und sahen einen Schuppen und einen großen Park. Gegenseitig hoben wir uns hoch, um zu sehen, was sich wohl in dem Schuppen befand. Man konnte einen großen Kessel und eine Kiste mit Kartoffeln sehen. Aber es war alles verschlossen. Da kam mir die Idee, einfach die Scheibe einzuwerfen, und die Kartoffeln zu kochen, denn wir hatten tagelang nichts gegessen und waren sehr hungrig. Zuerst sammelten wir im Park Holz und anschließend kochte ich die Kartoffeln. Salz fanden wir dort auch noch. Nachdem wir uns satt gegessen hatten, gingen wir zufrieden schlafen. Am nächsten Morgen wurde die Tür aufgerissen und zwei Herren kamen herein. Sie stellten sich uns als der deutsche und der dänische Lagerleiter vor. Sogleich kam die Frage, wer denn die Scheibe eingeschlagen hätte. Ich meldete mich sofort und sagte, daß wir ein paar Tage nichts gegessen hätten und sehr hungrig waren. Und daß ich die Kartoffeln gekocht hätte und sich alle satt gegessen hätten und wenn er wollte könnte er mich jetzt dafür bestrafen. Mir war es ganz egal. Im Gefängnis konnte es wohl nicht schlimmer sein als auf der Flucht. Das dachte ich aber nur für mich, gesagt habe ich es nicht.       Der dänische Lagerleiter erwiderte nur, daß ich, weil ich so ehrlich war, gleich in der Küche anfangen könnte, zu arbeiten. Er suchte sich noch zwei ältere Frauen und so kochten wir dann für 54 Leute. Es gab nicht viel, ein paar Kartoffeln, Knochen, etwas Spitzkohl, manchmal auch Erbsen oder Bohnen. Fleisch überhaupt nicht. Das Brot teilte ich mit einem Lineal – 4 cm für jeden, die ich nie vergessen werde. Butter gab es noch weniger und einer paßte auf den anderen auf, daß ja nicht der eine einen Millimeter mehr als der andere bekam. Bis zum 08. Mai durften wir uns in dem Ort frei bewegen. Die Kartoffelschalen brachten wir zum Bauern und bekamen manchmal Eier, etwas Milch oder auch Obst dafür. Als aber am 08. Mai der Krieg zu Ende war, durften wir nicht mehr heraus.

Es war der 12. Mai 1945 – genau an meinem 19. Geburtstag, nachmittags um halb vier, als unser Haus mit Stacheldraht eingezäunt wurde. Dänische Soldaten gingen mit aufgepflanztem Seitengewehr Tag und Nacht Wache. Noch heute muß ich jeden Geburtstag daran denken. Nach ein paar Wochen konnten wir übers Rote Kreuz Angehörige suchen lassen. Es dauerte gar nicht lange, da rief mich der dänische Lagerleiter zu sich und fragte, ob ich eine Frau Martha Voss habe suchen lassen und wer das sei. Ich antwortete ihm, daß das meine Mutter sei. Sie wäre gefunden worden, sagte er mir und gab mir die Adresse, denn sie waren auch in Dänemark im Lager Ollerup. Jetzt wollte ich natürlich schreiben. Doch ich hatte kein Papier, keine Umschläge und noch viel weniger hatte ich dänische Briefmarken.       Da die dänischen Posten fast alle Deutsch sprachen, fragte ich, obwohl es uns verboten war, mit ihnen zu sprechen, nach Briefpapier und Umschlägen. Am nächsten Tag bekam ich drei Umschläge mit Papier und schrieb an meine Mutter. Zukleben durften wir die Post nicht. Den folgenden Tag wurde ich wieder gerufen und der Lagerleiter sagte mit ganz ernster Stimme: „Du hast ein Geschenk von dänischen Freunden angenommen. Wenn du das noch einmal machst, wirst du strafversetzt.“ „Aber ich habe noch Papier, darf ich denn jetzt nicht mehr schreiben?“ „Na gut, einmal noch!“ Es dauerte einige Wochen, bis ich Post von meiner Mutter bekam. Dadurch erfuhr ich, daß Oma und Opa Drude sowie meine Mutter und Geschwister alle zusammen und gesund waren. Ich schrieb ein zweites Mal und alles ging gut. Aber beim dritten Mal rief mich der Lagerleiter und wurde ganz böse, denn in den dänischen Umschlägen ist immer eine Krone im Futter. Jetzt sagte er: „Ich habe Dich gewarnt und Du hast wieder mit dänischem Papier geschrieben. Du wirst jetzt in ein anderes Lager versetzt.“„ Ich alleine?“ fragte ich. „Ja, Du alleine!“ Da ich mich nicht von meinen Mädchen trennen wollte, fing ich fürchterlich an zu weinen. Aber im gleichen Moment erzählte er mir, daß ich ja sehr fleißig war und deshalb in das Lager käme, in dem meine Mutter untergebracht war. „Das ist Deine Belohnung und ich fahre Dich selbst mit meinem Auto dorthin. Dieses Gefühl kann ich nicht mit Worten beschreiben. Es war der 01. September 1945. Unterwegs mußte ich ihm von meiner Familie und der Flucht erzählen. Wir sind etwa vier Stunden gefahren. Am späten Nachmittag kamen wir in Ollerup an. Meine Großeltern lagen auf einem großen Scheunenboden. Leute saßen dort und haben sich die total verlausten Köpfe nach Läusen abgesucht. Aber sie hatten nicht nur Kopfläuse sondern auch Kleider- und sogar Filzläuse. Es dauerte nicht lange, bis ich auch Läuse bekam.

Nach ein paar Wochen kamen wir nach Aalborg. In Aalborg war ein riesiges Lager. Ich versuchte gleich, Arbeit in der Küche zu bekommen. Es klappte auch. Allerdings mußte ich jeden Morgen um zwei Uhr aufstehen, damit um sieben Uhr drei goße Kessel für Tee fertig waren. Die Kessel wurden mit Torf angeheizt, der nicht immer ganz trocken war. Manchmal schafften wir es nicht bis um sieben Uhr. Dann standen die Menschen schon in Schlangen an den Schaltern. Ungefähr zweieinhalb Jahre blieben wir in Aalborg, bis wir – die jungen Mädchen – uns nach Schweden in den Haushalt melden konnten. Auch ich meldete mich dafür, da es die einzige Möglichkeit war, der Gefangenschaft zu entkommen.

Eines nachts hatte ich einen sonderbaren Traum: Ich saß zu Hause am Strand. Der Bruder meines Opas – Onkel Karl – kam geschwommen und ließ eine Flaschenpost los. Darin war ein Zettel, auf dem stand, daß mein Vater in russischer Gefangenschaft sei und am 29. September 1948 entlassen werde. Dann war Onkel Karl weg. Ich wollte noch etwas fragen, aber er war nicht mehr zu sehen. Das erzählte ich natürlich am nächsten Morgen meiner Mutter, die nicht daran glauben wollte. Doch ich glaubte daran und meldete mich von der Schwedenfahrt ab. Nach kurzer Zeit bekamen wir tatsächlich Post von unserem Vater. Er hatte uns durch das Rote Kreuz suchen lassen und schrieb uns, daß er am 29. September 1948 aus der russischen Kriegsgefanggenschaft entlassen worden sei und jetzt in Kiel- Holtenau bei einer Familie Köck in der Kanalstraße 19 ist. Dorthin sollten wir uns melden. Nun ging alles sehr schnell.

Am 18. Oktober 1948 kamen wir in Holtenau an. Unser Vater hatte im Schusterkrug in einer Baracke zwei Zimmer für uns organisiert. Mit dem Bus fuhren wir dorthin. In einem Zimmer standen drei Seesäcke, in denen Decken und ein paar Dosen Dorschleber waren. Sonst gab es nichts zu essen, unser Vater war zur See gefahren und wir wußten auch nicht, wann er wiederkommen würde. Der nächste Tag war ein Sonntag und ich wollte zur Kirche nach Holtenau. Eine ältere Dame fragte ich nach dem Weg. „Sie können mit mir gehen. Ich gehe auch zur Kirche.“ Als wir so ins Gespräch kamen, erzählte ich ihr von unserer Flucht über Dänemark und daß wir nichts zu essen hatten. Daraufhin griff sie in ihr Portemonnaie und gab mir 2 DM. Ich wußte gar nicht, wie mir geschah. Dafür konnte ich am nächsten Tag vier Brote kaufen. Jetzt war der größte Hunger durch Brot und Dorschleber gestillt. Im Schusterkrug hatten die Leute von uns erfahren und brachten uns Kartoffeln, Milch, ein paar Eier und auch Brot. Eine Frau, die auch dort in der Baracke wohnte, besorgte mir eine Arbeit in einer Kieler Fischfabrik. Nach etwa einer Woche kam unser Vater von der See zurück. Jetzt ging es bergauf und es gab wieder etwas zu essen. Ich verdiente 50 Pfennig in der Stunde, das waren ca. 17 DM in einer Woche, von denen ich meiner Mutter 5 DM abgeben mußte. Die Wochenkarte von Friedrichsort nach Kiel kostete 3 DM. 17 DM kostete ein Paar Seidenstrümpfe mit spitzen Fersen hinten. Nicht mal eine Woche hielten sie. Aber die Laufmaschen wurden dann aufgenommen. In der Bergstraße gab es einen großen Obststand, an dem ich jeden Morgen vorbeifuhr. Ich hätte mir so gerne einen Apfel für 10 Pfennig gekauft. Aber die hatte ich nicht über, denn ich hatte am 31. Dezember 1948 Oskar – meinen zukünftigen Mann – kennengelernt und mußte jeden Pfennig für unsere geplante Hochzeit sparen. Mein Vater fuhr wieder zur See und nahm meinen ältesten Bruder Erich mit. Meine Schwester Erna kam nach Holtenau in einen Haushalt. Ewald ging ins Jugendaufbauwerk und die anderen Geschwister Gerhard, Inge, Edwin, die Zwillinge Karl-Heinz und Dieter und Klaus gingen teilweise noch zur Schule. So mußten wir als ältere Geschwister noch für sie sorgen. Aber langsam wurde es besser. Meine Mutter erzählte noch oft, wir sie mit neun Kindern geflüchtet ist. Sie sind auch mit einem großen Schiff, der „Ubena“, nach Dänemark gefahren. Oma und Opa Drude und die anderen Geschwister haben sich oft an den Händen zusammengehalten damit keiner verlorenging.

Am 22. Juli 1950 haben Oskar und ich dann geheiratet. Wir zogen in eine kleine 1 ½ – Zimmer-Wohnung , eine ausgebaute Garage im Königsweg. Die Miete betrug 49 DM. Vor unserem Haus hatten zwei Schwestern einen Obst- und Gemüsestand. Jedesmal beim Einkaufen dachte ich, daß es die Frau sein müßte, die mir damals in Holtenau 2 DM schenkte. Ich erzählte ihr die Geschichte und es stellte sich heraus, daß es so war. Jetzt konnte ich mich noch richtig bei ihr bedanken. Sie drehte sich zu ihrer Schwester um und sagte:“ Siehst Du Amalie, und Du hast mich ausgeschimpft. Ich habe Dir gleich gesagt, daß dieses junge Mädchen keine Betrügerin war. Und was sagst Du jetzt?“ Später hat meine Schwester Inge dort noch Arbeit gefunden und sich etwas Geld verdient. So geht das Schicksal oft seltene Wege. Eines muß ich noch erzählen: Der Bruder meines Vaters – Onkel Otto – ist, als er aus russischer Gefangenschaft kam, über die Nehrung nach Narmeln gegangen, weil er glaubte, wir wären noch dort. Aber es war kein Mensch mehr da. Die Häuser waren alle, bis auf eins, abgebrannt. Auch unser Haus war abgebrannt. Nur unser Bunker hatte überlebt. Es lagen sogar noch unsere Federbetten dort. Da hat der Onkel nun ein paar Tage Rast gemacht und sich in dem Bunker ausgeruht. Dann ist er auch in den Westen und hat in Cuxhafen seine Familie gefunden. So können wir unser Überleben eigentlich unserem Vater verdanken, da er für uns diesen Bunker gebaut hat. Er sagte auch immer: “Unsere Tür bleibt für jeden offen, der herein will. Es dauert nicht mehr lange, dann geht ihr auf die Flucht und dann werdet ihr froh sein, irgendwo etwas zu essen oder warmes zu trinken zu bekommen.“

Meine Oma Auguste Voss, Papas Mutter, ist in Dänemark verstorben und liegt in Oksböl begraben. Wenn ich heute so darüber nachdenke, daß es keine Milch für die kleinen Geschwister gab, nicht einmal Brot zum Sattessen, muß ich sagen, uns haben wohl unsichtbare Kräfte zur Seite gestanden. Oft denke ich, unser tägliches Gebet hat uns geholfen. In wieviel Not hat nicht der Gnädige Gott Flügel über uns gebreitet.

Das war meine Geschichte von der Flucht.

Gerda Jagusch geb. Voss († 2004)

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